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Gastbeitrag von Rainer Nagel, Direktor, erschienen im FAZ Jahrbuch „Digitale Transformation 2018“

Digitale Transformation: Die Illusion auflösen

Die Mehrheit der deutschen Unternehmen hat den digitalen Veränderungsbedarf zwar erkannt, muss nun aber massiv investieren, um nicht dauerhaft ins Hintertreffen zu geraten. Warum der digitale Transformationsprozess weit mehr als bloße Technologie beinhaltet, erläutert Rainer Nagel, Gründer und Managing Partner von Atreus, in einem Gastbeitrag für das FAZ-Jahrbuch 2018 – Digitale Transformation.

Die Illusion auflösen

Die meisten Unternehmen haben eine digitale Agenda, die Transformationserfolge lassen jedoch zu wünschen übrig. Über Ursache und Wirkung von Scheinmaßnahmen – und welches Potential echte Lösungen entfalten können.

Einer aktuellen Untersuchung zufolge setzen deutsche Unternehmen auf digitale Technologien, um Prozesse zu optimieren oder Produkte schneller, besser und kostengünstiger herzustellen. Mit der umfassenden Transformation von Geschäftsmodell, Prozessen, Organisation oder Kultur haben sie bisher jedoch kaum begonnen. Ein Grund: Deutschlands Unternehmen strotzen vor Kraft. Die Unternehmensergebnisse sind exzellent, die Eigenkapitalquote im Mittelstand erreicht immer wieder Rekordstände, der Export boomt. Das alles ist großartig, erweist sich aber dennoch als Hemmnis. Eine risikobehaftete ganzheitliche Transformation erscheint vielen in diesen Erfolgsmomenten nicht notwendig und wäre nur mit Blick auf künftige Gefahren begründbar. Somit besteht schlichtweg kein Business-Case, der Veränderung profitabel erscheinen lasst. Die herausragende Wettbewerbsposition, die vorhandenen Kunden und die Profitabilität des Geschäfts werden zum Innovationshindernis. Neue Player, die dieses Erbe nicht bewahren müssen und so auch nichts zu verlieren haben, werden ernstzunehmende Wettbewerber. Im Übrigen kein neues Phänomen, denn Harvard-Professor Clayton M. Christensen beschrieb es bereits im Jahr 1997 in seinem Buch ,,The Innovators’ Dilemma”.  

Errungener Erfolg und Managementkultur bremsen

Dabei sind es nicht so sehr die aktuellen Erfolge, sondern vor allem die Kultur, die Innovationen verhindert. Stichwort ,,Theorie X“: Sie geht davon aus, dass der Mensch von Natur aus faul ist und Arbeit weitestgehend vermeidet. Prinzipiell ist er von außen motiviert, also durch extrinsisch ausgerichtete Belohnung oder Sanktionierung. Für eine effiziente Arbeitsausführung müssen Handlungen detailliert vorgeben werden, gepaart mit umfangreichen Regelwerken für die Organisation.

Auch heute trifft die Theorie X als Menschenbild auf viele Organisationen und Prozesse zu. In den meisten Unternehmen dominieren formale, zentralistische Führungsmodelle. Führung ist weitgehend an die Position in der Unternehmenshierarchie geknüpft und unterliegt so einer simplen Logik: Informationen werden „nach oben” geleitet und verdichtet, Entscheidungen von Managern top-down getroffen, also Anweisungen ,,nach unten” erteilt und deren Umsetzung ,,von oben” kontrolliert. Die Aufbauorganisation ist hierarchisch und aufgeteilt in funktionale ,,Ab-Teilungen” aus gleichartigen Experten. Die Ablauforganisation ist durch standardisierte, wohldefinierte Prozesse, formalisierte Zusammenarbeit und definierte Entscheidungsgremien geprägt. Gesteuert wird die Organisation durch Zielvorgaben, Budgetpläne, Anreiz- und Bonussysteme. Es gibt eine Vielzahl von Regeln und Richtlinien zu Arbeitszeiten, Homeoffice-Nutzung, Mitarbeitergesprächen oder -beurteilungen, um das Verhalten der Mitarbeiter zu steuern und zu kontrollieren.

Allerdings ist die Effektivität dieser ,,Organisation von Arbeit” zu bezweifeln, der Managementvordenker Peter Drucker sagte dazu recht treffend: „Die meisten Praktiken, die wir Management nennen, halten die Menschen von ihrer Arbeit ab.” 

Herausforderung: die VUCA-Welt

Gleichzeitig leben gerade die Unternehmen, die noch weitgehend tayloristische „Command & Control”-Strukturen aufweisen, mittlerweile in einer VUCA-Welt. Der Begriff VUCA entstand während der 1990er Jahre an einer amerikanischen Militärhochschule und beschrieb zunächst die multilaterale Welt nach dem Ende des Kalten Krieges. VUCA steht als Akronym für die Begriffe Volatility, Uncertainty, Complexity und Ambiguity. Aus Sicht der Unternehmensführung charakterisiert VUCA heute die schwierigen Rahmenbedingungen in einer Zeit, in der Informationen kaum noch prognostische Aussagekraft besitzen, weil sich technologische und gesellschaftliche Rahmenbedingungen rasant verändern:

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Uncertainty

steht für die Unkenntnis der Variablen oder ihrer Beziehungen zueinander. Veränderungen entstehen scheinbar aus dem Nichts. Verlässliche Prognosen sind kaum mehr möglich. Märkte verschwinden oder entstehen in hoher Geschwindigkeit.

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Volatility (Unbeständigkeit)

steht für eine hohe Schwankungsbreite und sprunghafte oder disruptive Veränderungen in hohem Tempo.

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Complexity (Komplexität)

meint: Unvorhersehbarkeit versus Berechenbarkeit. Ein Hochleistungsmotor ist kompliziert, seine Wirkweise jedoch vollständig vorhersehbar – anders als das Verhalten komplexer Systeme. Sie verändern sich permanent, sind beobachtbar, aber nicht kontrollierbar.

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Ambiguity (Viel- bzw. Mehrdeutigkeit):

Es existieren widersprüchliche, nicht eindeutig interpretierbare Informationen. Aus der Vielzahl von Rollen, Stakeholdern und Schnittstellen entstehen vielschichtige Interessenskoalitionen, die sich permanent verändern.

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„Unternehmen dürfen sich nicht länger von Scheinmaßnahmen ablenken lassen. Die Digitale Transformation muss beherzt und ganzheitlich angegangen werden.“

Beispiel Automobilindustrie: Hat sich das Auto verändert, seit es vor 130 Jahren erfunden wurde? Zugegeben, die Fahrzeuge sind zuverlässiger, sicherer, schneller, bisweilen umweltfreundlicher, in jedem Fall aber komfortabler denn je, und sie haben ihr Design immer wieder der Formensprache ihrer Zeit angepasst oder sie mitgeprägt. Doch insgesamt liefern sie nach wie vor den gleichen Kundennutzen. Erst in den vergangenen Jahren hat sich die Automobilindustrie verändert: Der Verbrennungsmotor als Herzstück der deutschen automobilen Kompetenz wird zunehmend durch Elektroantriebe ersetzt. Damit wandelt sich auch die Wertschöpfung: Firmen wie Schaeffler oder ZF Friedrichshafen, die hier ihre Kernfähigkeiten haben, sind massiv bedroht. Andere Kompetenzen wie die Batterietechnologie rücken in den Mittelpunkt. Neue Wettbewerber wie Tesla entstehen aus dem Nichts. Auch der After-Market wird sich nachhaltig verändern, da Elektroantriebe anders als Verbrennungsmotor und Power-Train-Komponenten störungs- und wartungsfrei sind. Die Tankstelleninfrastruktur weicht Ladestationen. Carsharing, Connected Car und autonomes Fahren haben mittelfristig wohl noch dramatischere Auswirkungen. Die Nutzung von Mobilitätsangeboten tritt an die Stelle des Autobesitzes. Autonomes Fahren lässt das Fahrzeug in den Hintergrund treten. Es ist nicht mehr auf den Fahrer und seine Haupttätigkeit ausgerichtet, sondern entwickelt sich zum mobilen Wohn-, Entertainment-, Arbeits- oder gar Schlafraum. In diesem Wettbewerbsumfeld sind völlig neue Kernfähigkeiten gefragt.

Die Disruption der Branche könnte durch Technologien wie Virtual Reality, Virtual- Collaboration-Tools oder Onlineshopping noch deutlich weiter gehen: Verkehr wird durch diese Technologien gewissermaßen vermieden. Menschen bewegen sich nicht mehr von A nach B, um an Besprechungen teilzunehmen, im Team zu arbeiten oder einzukaufen. Wie schnell disruptive Veränderungen einen Markt auf den Kopf stellen, zeigt der Mobilfunkmarkt: Als Apple 2007 das erste iPhone auf den Markt brachte, lag der Weltmarktanteil von Nokia bei vermeintlich unangreifbaren 50 Prozent. Bis 2011 fie1 der Marktanteil auf 15 Prozent, im Jahr 2013 war der Konzern bereits bedeutungslos geworden. Nokias Organisation und Kultur waren schlichtweg nicht geeignet, Antworten auf die neue Marktkomplexität und Veränderungsgeschwindigkeit zu finden. 

Lösung: das Menschenbild der Theorie Y

Um mit der VUCA-Welt umgehen zu können, brauchen Unternehmen einen Paradigmenwechsel. Die Theorie Y als Alternative zur Theorie X unterstellt, dass der Mensch ehrgeizig, von Natur aus leistungsbereit und intrinsisch motiviert ist. Identifiziert er sich mit den Zielen und der Kultur einer Organisation und sieht er Sinn in seinem Tun, entwickelt er Eigeninitiative und übernimmt Verantwortung. Externe Kontrolle seiner Arbeit wird unnötig, da er sich zur Erreichung sinnvoller Organisationsziele freiwillig Selbstdisziplin und Selbstkontrolle auferlegt. Das Designprinzip einer Organisation nach Theorie Y ist häufig ein Netzwerk, in dem jeder Verantwortung trägt. Vernetzt sind einzelne Akteure in informellen Strukturen und funktional integrierten Teams, die ein gemeinsames Ziel erreichen wollen. Den Rahmen bilden nicht Regeln und Richtlinien, sondern gemeinsame Werte, Prinzipien und Zielvorstellungen. Entscheidungen werden nah am Markt bzw. dem Problem und durch den jeweiligen Spezialisten getroffen. Das Management ist nicht mehr durch Entscheidungsmacht definiert, sondern treibt die Erarbeitung der zugrundeliegenden Prinzipien und des Geschäfts- und Organisationsmodells. Es holt die richtigen Personen an Bord, moderiert Konflikte und definiert den Rahmen, in dem durch das unternehmerische Handeln von Einzelnen und Teams Wertschöpfung entsteht. Es managt nicht, es führt, und das nicht legitimiert durch eine Führungsposition, sondern durch seine Tätigkeit an sich.

Unternehmen dürfen sich nicht länger von Scheinmaßnahmen ablenken lassen. Die Digitale Transformation muss beherzt und ganzheitlich angegangen werden. Sie ist eben nicht nur eine technische Umstellung, sondern muss vor allem als (unternehmens-) kultureller Kraftakt verstanden und umgesetzt werden. Bereits jetzt zeichnet sich ab: Nur wer bereit ist, Theorie X voll und ganz durch Theorie Y zu ersetzen, wird im digitalen Wettbewerb überleben. 

Wie die Transformation gelingt: Schritte auf dem Weg zur erfolgreichen Veränderung

  • Dringlichkeit der Transformation in der Organisation wahrnehmbar machen: Es gibt keine Alternative zur Veränderung
  • Veränderung durch das Topmanagement initiieren, tragen und treiben: Das Management zeigt den Mut und den Willen, Vorbehalte, Angriffe, Widerstände und das Scheitern einzelner Schritte auszuhalten. Ein CDO als Verantwortlicher der Digitalen Transformation kann sein Potential nur entfalten, wenn die Transformation vom gesamten Management gewollt und unumkehrbar vorangetrieben wird. Der CDO verantwortet dann nicht die Transformation an sich – das ist die gemeinsame Aufgabe des gesamten Führungsteams -, sondern er organisiert den Prozess und agiert als Change-Agent im Führungsteam.
  • Interdisziplinäre, hierarchiefreie, selbstorganisierte Teams mit konkreten, wichtigen, sichtbaren Aufgaben bilden: neue Organisations-, Führungs- und Arbeitsmodelle ausprobieren, anpassen und einüben; beispielsweise Methoden wie Design Thinking, Scrum oder Lean Start-up erproben und im Werkzeugkasten verankern. Das Management gibt bedingungslosen Rückhalt, die Teams wirken als Leuchttürme  und Katalysatoren in die Organisation.
  • Change-Agents von außen an Bord holen: Change-Agents übernehmen wichtige Rollen und Aufgaben, gewinnen durch anerkannte Expertise und Erfahrung schnell die Akzeptanz der Organisation und führen informell durch ihre Vorbildfunktion. Sie geben der Organisation Beispiele, zeigen, wie die Veränderung gelingt, vermitteln Sicherheit und liefern mit ihren Teams Ergebnisse.
  • Kommunikation, Kommunikation. Kommunikation: Jedes einzelne Mitglied der Organisation sollte den Sinn seines eigenen Tuns und des Tuns der anderen verstehen. Wenn alle miteinander reden, werden einzelne Aktivitäten und Aufgaben in das Gesamtbild eingeordnet, gemeinsame Ziele und Strategien erarbeitet und für alle verständlich gemacht.